Dysmelie (altgr: dys = schlecht, fehl [hier = -anomalie], melos = Glied[maße] [hier = Gliedmaßen-]) ist der Oberbegriff für angeborene Fehlbildungen eines oder mehrerer Gliedmaßen, also der Arme oder Beine bzw. der Hände, Finger, Füße oder Zehen. Dysmelien kommen weltweit in ca. 0,02 % (1:5000) der Geburten vor. Von jeher hat es bei Menschen Fehlbildungen der Gliedmaßen gegeben.
Schon Aristoteles* (384 bis 322 v. Chr.) beschrieb diese Fehlbildungen: „Es liegt übrigens zutage, was hier als natürlich gilt, weil es sich bei den meisten findet, und was wegen seiner Seltenheit als wunderbar erscheint.“ und „Denn es gehört zur Eigenschaft der Fehlbildung, dass etwas fehlt oder etwas zu viel ist. Die Fehlbildungen gehören nämlich zu den Erscheinungen, welche wider die Natur sind, aber nicht wider alle Natur, sondern nur wider den gewöhnlichen Lauf der Dinge“.
Es handelt sich bei den meisten Dysmelien also um eine Laune der Natur (lusus naturae) und sind kein Zeichen unserer Zeit. Auch bei den Moche Indianern in Peru fand man Tongefäße mit Abbildungen von Menschen wahrscheinlich mit Dysmelie.
Dysmelie ist laut Pschyrembel eine „Störung in der Extremitätenentwicklung während der sensiblen Phase (29.-46. Tag der Schwangerschaft) […]; je nach Zeitpunkt und Wirkungsdauer entstehen unterschiedliche Fehlbildungen:
1. Amelie: Fehlen einer ganzen Extremität; meist auch angrenzender Schulter- od. (seltener) Beckenteil hypoplast.; manchmal bürzelförmige Weichteilknospen am Schulter- oder Hüftgelenk; Determinationszeit 29. -38. Tag;
2. Phokomelie: Fehlbildung bei der Hände bzw. Füße unmittelbar an Schultern bzw. Hüften ansetzen; Determinationszeit: 29.-32. Tag;
3. Peromelie: intrauterine Stumpfbildung einer Gliedmaße;
4. Ektromelie: Sammelbezeichnung für Hypo- und Aplasien einzelner oder mehrerer Röhrenknochen mit konsekutiver Fehlstellung der Gliedmaßen.“
Quelle: Pschyrembel, 261. Auflage S. 468
Die Dysmelie entsteht meist durch äußere Einflüsse während der Schwangerschaft und kann durch Ultraschall im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchung bereits im Mutterleib erkannt werden. Dysmelie wird nach dem heutigen Stand der Wissenschaft in fast allen Fällen nicht weitervererbt, Dysmelie ist also kein Gendefekt. Eine Dysmelie ist also im Regelfall nicht vererbt, sondern angeboren. Die kausalen Einflüsse können Infektionen durch Varizellen oder das Rubeolavirus (Rötelnembryopathie), Sauerstoffmangel des Embryos oder Folgen des ABS (amniotic band syndrome), Strahlen, zu wenig Fruchtwasser (Oligohydramnion) sowie Fehlernährung der Schwangeren sein, in der Literatur wird ein Vitamin B2-Mangel und Folsäuremangel (Vitamin B9) erwähnt. Amalgam und Hormonpräparate sind möglicherweise ursächlich für Dysmelien. Methotrexat, Duogynon und Phenytoin sollen ebenfalls ursächlich für Fehlbildungen sein. Auch können illegale Drogen, wie LSD, teratogene (fruchtschädigende) Wirkungen haben.
Ein Mangel an Retinolsäure (Vitamin A) ist möglicherweise ursächlich für die inkomplette Ausbildung der Extremitätenknospen in der frühen Schwangerschaft. (Burnham Institute (2009, June 10). Embryology Study Offers Clues To Birth Defects.)
Äußerst selten ist die Ursache von Fehlbildungen der Gliedmaßen ein Gendefekt wie z.B. Thrombozytopenie absent radius (TAR-Syndrom)[weltweit ca. 100 Fälle] oder Brachmann-de-Lange-Syndrom, Symphalangismus, Apert-Syndrom, Escobar-Syndrom, Symbrachydaktylie, Adams-Oliver-Syndrom (AOS), Holt-Oram-Syndrom (Hand-Herz-Syndrom), Okihiro-Syndrom (Duane-Radial Ray Syndrom), IVIC Syndrom, Poland Syndrom und Roberts Syndrom.
In den meisten Fällen von Dysmelie ist die Ursache der Fehlbildungen jedoch noch immer nicht bekannt.
Das bekannteste Beispiel ist das Medikament Contergan der Firma Grünenthal, der Wirkstoff Thalidomid, das am 01.10.1957 auf den Markt kam zur Behandlung von Schlafstörungen und gegen morgendliche Übelkeit bei Schwangeren. Durch Contergan entstand aber in Tausenden von Fällen schwere Dysmelie beim heranwachsenden Kind. Dies führte dazu, dass das Medikament am 27.11.1961 vom Markt genommen wurde.
Gardiner und Holmes stellen 2012 in ihrem paper die These auf, dass ursächlich für Dysmelie sein kann:
(1) Durch einen spontanen Riss in der Fruchtblase (Amnion) steckt der Arm oder das Bein durch die Öffnung, und der Druck aus dem geborstenen Amnion an der vorstehenden Gliedmaße erzeugt einen Verlust der Durchblutung außerhalb des Amnions, die Gliedmaße stirbt ab. (Higginbottom et al, 1979.).
(2) Ein Pfropf aus geronnenem Blut oder anderem Material aus der Plazenta befindet sich in der Blutbahn und verschließt die großen Arterien in einem Arm, was zum Gangrän führt und einem Verlust des nicht durchbluteten Teils des Armes. (Hoyme et al, 1982.).
(3) Unterbrechungen der Durchblutung der Gefäße verursacht durch eine Minderdurchblutung, Schädigung der Endothelzellen, und Blutungen, als Folge der Chorionbiopsie als pränatales Diagnostikverfahren in der 8. bis 10. Schwangerschaftswoche (Firth et al. 1991; vgl. Fall 1 des Artikels).
(4) Intensive Uteruskontraktionen verursacht durch Prostaglandin E1 analog Misoprostol bei 6 bis 8 Wochen der Schwangerschaft zu schweren Durchblutungsstörung der Uterus-Arterien, gefolgt von verminderter Sauerstoffzufuhr, Blutungen, und Verlust der Gliedmaßen (Los et al., 1999).
* Aristoteles: Problemata. In: Nestle, W.: Aristoles‘ Hauptwerke. 2. Aufl. Stuttgart 1938, 4. Aufl 1953.